Biographie Ruth Denison

Dieser Beitrag beruht im Wesentlichen auf der Biographie von Sandy Boucher mit dem Titel Ruth Denison (Theseus-Verlag, dt. Ausgabe 2005) und wurde während der Samstagsmeditation in unserer Gruppe vorgetragen.


Ruth Elisabeth, geb. Schäfer, wurde am 29. September 1922 in Ostpreußen geboren und war das älteste von 4 Kindern. Sie wurde also zwischen dem ersten und 2. Weltkrieg in einem weit abgelegenen Gebiet Deutschlands geboren, in dem der Fortschritt der Weimarer Republik nur wenig zu spüren war. Ruth wuchs auf einem kleinen arbeitsamen Bauernhof auf. In dem christlich geprägten Hause lernte sie, hart zu arbeiten und entwickelte schon früh ein Verhältnis zu Gott. Sie fütterte die Tiere auf dem Hof und hütete auch die Kühe anderer Dorfbewohner. Dies führte zu einer starken Verbundenheit mit den Tieren und der Natur, die sie ein Leben lang begleitete.

Während der Weltwirtschaftskrise und in der Zeit danach änderte sich das Bild. In der Schule wurde das Fach Religion durch Unterricht über die Ideen des Führers ersetzt. Ruth schloss sich dem Bund Deutscher Mädel an und fand in den Ideologien und den damit verbundenen Riten ihre neue Religion. Sie sah in dieser Zeit vorwiegend die guten Seiten des Nationalsozialismus’, welcher den Arbeitern bessere Lebensumstände, wie z.B. eine eigene Wohnung, verschaffte. Daneben ging Ruth aber auch literarischen und spirituellen Interessen nach. So las sie im Alter von etwa 16 / 17 Jahren die Biografie von Teresa von Avila oder Werke von Hölderlin.

Als der 2. Weltkrieg begann war Ruth 17 Jahre alt. Als sie mitbekam, dass für die Lehrer, die an die Front gingen, Ersatz gesucht wurde, meldete sich Ruth und absolvierte eine Ausbildung, gefolgt von einem Praktikum. Anfangs unterrichtete sie ca. 30 – 40 Kinder. Später jedoch war sie durch den Schwund an männlichen Lehrern alleinige Lehrerin an der Schule. Jedenfalls bereitete ihr das Unterrichten große Freude und sie entdeckte das Talent, für eine gute Atmosphäre bei den Schülern zu sorgen. Sie genoss diese Zeit, in der sie auch einen ersten Freund hatte. Die Sympathie zu den Nationalsozialisten nahm aber mit zunehmender Kriegsdauer ab. Immer mehr wurden die Lügen und der damit einhergehende Schrecken offenbar.

Als die deutschen Truppen in Russland geschlagen waren, begann für viele die Flucht nach Berlin. So auch für Ruth, die sich bei ihrer Tante einquartieren konnte. Sie durchlebte dort die verheerenden Bombardements der Stadt durch die Alliierten; als die Rote Armee näher rückte und sich der Einmarsch in Berlin abzeichnete, begann die zweite Flucht – wieder mit Teilen ihrer Familie. Der starke Beschuss führte jedoch dazu, dass sie von ihrer Familie getrennt wurde. Einmal kam sie dabei beinahe ums Leben. Schließlich erreichte sie Lübeck, wo sie ihre Cousine Lydia traf. Als Trümmerfrauen hatten sie eine schwere Zeit; jedoch gelang es ihnen durch Einfallsreichtum und Durchhaltevermögen, sich bis zum Kriegsende durch zuschlagen.

Nach Kriegsende ging Ruth wieder zurück nach Berlin zu ihrer Tante. Um einer weiteren Tante dabei zu helfen, deren Familie – insbesondere die Kinder – ausfindig zu machen, trat Ruth den Weg in ihre Heimat an. Diese wurde zu jener Zeit von der polnischen Miliz und russischen Soldaten beherrscht und glich einem Niemandsland. Die Reise sollte 1,5 Jahre dauern, in denen Ruth unsägliches Leid widerfuhr. Sie wurde wieder und wieder verhaftet, verhört, gedemütigt und vergewaltigt. Obwohl sie stets den Willen zum Weiterleben hatte, blieben ihr diese Ereignisse traumatisch in Erinnerung. Jedoch hat sie bis zu der Erstellung ihrer Biografie (wie viele Opfer jener Zeit) nie über die Einzelheiten jener Erlebnisse gesprochen. Im Fortgang ihrer Reise fand sie sich später in einem russischen Arbeitslager wider. Ein Offizier nahm sie schließlich mit nach Hause, damit sie seiner Frau im Haushalt behilflich war. Um weiter in Richtung Heimat zu gelangen, verließ sie schließlich diesen sicheren Hafen, in dem es ihr den Umständen entsprechend gut ging.

Endlich in ihrer Heimat angekommen, waren nur noch wenige Deutsche übrig geblieben. Sie lebte mit ihnen auf engstem Raum und teilten sich das wenige Essen. Eines Nachts hatte sie den tiefen Wunsch, Gutes zu tun, sofern sie wieder heil nach Hause kommen werde. Rückblickend schildert sie diese Erfahrung so: “Ich wurde ruhig und hatte einen Fokus. In diesem großen weiten Raum des Gebets, verbunden mit meinem Atem und meiner Liebe, betete ich, dass ich gerettet werden möge, doch darunter zog sich ein Gedanke durch den Raum – ich erkannte, wie viel Ungerechtigkeit verübt wurde und an wie vielen schlimmen Dingen auch ich beteiligt war…. Ich wusste, wenn ich da heraus komme, werde ich Gutes tun und das Leben berühren. Das war nicht wirklich ein Gedanke, aber ein weites, sehr greifbares Gefühl – mein Entschluss, anderen Menschen zu helfen.”

Das Ergebnis ihrer Reise war enttäuschend, denn sie konnte die Familie ihrer Tante nicht finden und so machte sie sich auf den Rückweg – wieder durch das Niemandsland. Die Rückreise war noch schlimmer, da sie erneut Übergriffen von Soldaten ausgesetzt. Zusätzlich hatte sie Angst und war erschöpft, so dass sie schließlich schwer an blutiger Diarrhö erkrankte. In dieser Zeit wurde sie von einem russischen Arzt aufgenommen, welcher sie dabei unterstütze wieder gesund zu werden. Im Gegenzug hatte sie für den Haushalt zu sorgen. Auch in dieser Zeit erlebte sie Übergriffe, wenn der Arzt betrunken war. Ruth wurde erneut krank und musste täglich ins Krankenhaus zur Behandlung gebracht werden. In dieser Zeit betete sie oft und wandte sich nach innen, um nicht von Angst überwältigt zu werden.

Ruth entschloss sich – trotz ihrer Umstände – diese Sklaverei zu verlassen. Und so stahl sie sich davon, als sie von einer Krankenhausbehandlung abgeholt wurde. In der Nacht schaffte sie es, auf einen langsam fahrenden Güterzug aufzuspringen und so letztlich nach Berlin zu gelangen, wo sie wieder im Haus ihrer Tante wohnte konnte. Inzwischen waren es 15 Personen, die sich ein Zimmer teilten. Die Vergewaltigungen während ihrer Reise hatten eine Schwangerschaft zur Folge, worauf die Ärzte das Kind kurzerhand abgetrieben. In den Nachkriegsjahren kümmerte sich Ruth um Nahrungsbeschaffung und die Versorgung ihrer Eltern. Ihre Mutter kam mit Typhus nach Berlin, überlebte diesen aber unter glücklichen Umständen. Als ihr Vater aus russischer Kriegsgefangenschaft eintraf, hatte er Tuberkulose und blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1956 krank.

Ruth schöpfte mit der Zeit neuen Mut und durchlief das Entnazifizierungsprogramm, wodurch es ihr wieder möglich war, zu unterrichten. 1957, nach dem Tod ihres Vaters, bot sich ihr die Gelegenheit, in die USA zu emigrieren was sie dankend annahm.

Als Ruth mit 34 Jahren in die USA reiste war sie eine junge Frau, tief religiös, sie liebte die Natur, verfügte über eine enorme Energie und einen guten Willen und betrachtete die Welt mit einem nüchternen Blick.

In der Zeit, in der sie nach Kalifornien kam, nahm das große soziologische, psychologische und spirituelle Experimentieren der Sechziger gerade seinen Anfang und Ruth wurde von dieser Bewegung mitgerissen. Die ersten Monate jedoch boten eher eine düstere Perspektive. Denn es stellte sich heraus, dass ihr Sponsor ein Jäger, Trinker und widersprüchlicher Zeitgenosse war. Für Kost und Logis führte Ruth dessen Haushalt. Ihre Situation änderte sich aber, als sich ihr Fleiß und Geschick in der Nachbarschaft herum sprachen, so dass sie in mehreren Häusern putzen konnte. Über glückliche Umstände lernte sie dann einen deutschen Gastprofessor der Philosophie kennen, dem sie künftig assistierte.

Bei der Abschiedsfeier des Professors lernte sie schließlich Henry Denison – ihren zukünftigen Ehemann – kennen. Henry war ein groß gewachsener, aristokratisch aussehender Mann in den Vierzigern, der sein früheres Leben als Unternehmersohn zurückgelassen hatte. Auch trennte er sich von seiner damaligen Frau und deren gemeinsamen Sohn und widmete fortan sein Leben der spirituellen Suche. So lebte er nach dem Verlassen seiner Familie sieben Jahre lang als Mönch in der Advaita-Vedanta-Gemeinschaft. Die Advaita-Vedanta ist eine hinduistische Richtung der religiösen Betrachtung. Zentral ist die Aussage, dass auf der höchsten Ebene der Wahrheit die gesamte äußere Welt einschließlich der Götter unwirklich ist und letztendlich die einzige Wirklichkeit Brahman ist.

Henry war ein spirituell Suchender, äußert interessiert an allen Bereichen der Philosophie und der Religion. Nachdem er das Kloster verlassen hatte, wurde es seine wichtigste Rolle, mit seinem Geld, seiner Intelligenz und seiner Offenheit für neue Ideen, mit seinem wunderschönen Haus in Hollywood und seiner Begabung als Gastgeber die spirituelle Arbeit von anderen zu unterstützen und zu ermöglichen. Die wichtigsten Figuren der aufkeimenden Bewusstseinsbewegung der Sechziger waren bei ihm zu Gast gewesen: Mystiker, Lamas, Priester und Dichter sowie Psychiater und Professoren, die anfingen mit Drogen zu experimentieren – sie alle kamen an seinem Kamin zusammen, um sich auszutauschen.

An den Abenden, an denen sich Henry mit bekannten Persönlichkeiten unterhielt, sorgte Ruth für das leibliche Wohl. Ansonsten sorgte sie sich um das Haus und machte zusammen mit ihm den Garten. Schließlich heirateten sie im Jahr 1963 und Ruth zog bei ihm ein, wenngleich sie schon vorher die meiste Zeit in seinem Haus verbrachte.

In dieser Zeit entstand eine Bewegung, die später auch als Gegenkultur bezeichnet wurde. Es ging um die Sinnsuche: so wurden gängige Konventionen in Frage gestellt und Wege zur Verbundenheit mit dem Leben gesucht. Östliche Religionen wie Hinduismus und Buddhismus boten spirituelle Wege zur Befreiung. Hinzu kamen Poesie, Jazz und Folkmusik, in denen von der universellen Befreiung gesprochen wurde und psychedelische Drogen erweiterten das Bewusstsein. Daneben boten die Gestalttherapie und Selbsthilfegruppen die Möglichkeit, mit Körper und Geist zu arbeiten.

Dieser bunte Mix spiegelte sich auch in Henry’s Haus wider. Alan Watts, ein Religionsphilosoph, der sich u.a. mit der Philosophie des Zen-Buddhismus auseinandersetzte, erzählte einmal:”Wann immer wir nach Los Angeles kamen gaben Ruth und Henry Bis-spät-in-die-Nacht-Parties u.a. mit Aldous Huxley (Schriftsteller), Marlon Brando (Schauspieler), John Saxon (Schauspieler), Zen-Meister Joshu Sasaki und anderen…”. Es wurde dabei viel über die Sinnsuche gesprochen. Und während Henry und die anderen sich austauschten, sorgte Ruth für das leibliche Wohl und fand ihre Rolle als Erdmutter, wie sie von anderen wahrgenommen wurde.

Die entscheidenden Protagonisten dieser Gegenkultur waren Männer, die die Zerstörungen des 2. Weltkriegs hautnah miterlebten. Ein typischer Vertreter war Erich Fromm, ein deutsch-jüdischer Psychoanalytiker, der ebenfalls bei Henry und Ruth stets willkommen war.

Ihm ist es zu verdanken, dass Ruth ihre erste Lehrerin kennen lernte. Es war Charlotte Selver, die Begründerin der Sensory Awareness. Fromm entdeckte Selver auf einer Konferenz und nahm sie später mit auf eine Zen-Konferenz mit D.T. Suzuki. Die Parallelen von Zen und Sensory Awareness wurden schnell deutlich. Alan Watts war ebenfalls begeistert und meinte, dass Selver das einübe, wovon er rede. Schließlich lud auch Henry sie zu sich ein und sponsorte sie fortan über Jahre.

Entgegen den oftmals intellektuell gehaltenen Diskussionen über die Zustände des Geistes, mit denen Ruth nicht viel anfangen konnte, berührte sie der Ansatz der Sensory Awareness sofort. Zentral für diesen Ansatz ist das Empfinden von Körper und Gefühlen. Es geht dabei nicht um richtig oder falsch, sondern einfach nur um die Wahrnehmung an sich. Als die 4 Würden des Menschen bezeichnete Selver Stehen, Gehen, Sitzen und Liegen. Also natürliche Bewegungsmuster, die wir in der Regel achtlos ausführen. Dabei leiten einfache Fragen und Anweisungen (z.B. “Habt ihr genug Platz, um bequem zu liegen?” oder “Jetzt hebt einen Arm vom Boden”) den TeilnehmerInnen den Weg in die Achtsamkeit.

Mit der Sensibilität, die Ruth gegenüber ihrem Körper hatte, waren ihr die idealen Voraussetzungen für diesen Weg gegeben. Da Selver viele ihrer Kurse bei den Denisons abhielt, konnte Ruth diesen beiwohnen, sofern sie sich von den häuslichen Tätigkeiten frei machen konnte. Denn sie kümmerte sich weiterhin um die Verpflegung der Kursteilnehmer und hielt das Haus in Ordnung. Selver sah das Talent von Ruth und zeigte ihr, wie sie die Übungen auch in den Alltag integrieren konnte. So lernte Ruth die Präsenz im Alltag zu integrieren.

Später brachte Henry – damals war er ehrenamtlich als Psychologe in einer Klinik für unverheiratete Mütter tätig – junge Mütter mit nach Hause und bat Ruth, ihnen etwas zu geben, um sich zu erden. Ruth erkannte, dass Sensory Awareness den jungen Frauen helfen konnte und so lernten sie, die Körperempfindungen bei den täglichen Verrichtungen wahrzunehmen:”Du nimmst das Bügeleisen, und anstatt zu denken, spürst du deinen Arm, spürst, wie er sich bewegt. Lässt die Gedanken hinter dir.” Auch half sie Henry in dieser Zeit über Massagen und das damit einhergehende Körpergefühl von seinen Schlaftabletten loszukommen.

Sensory Awareness wurde so ein zentraler Bestandteil von Ruths Leben, den sie später in ihren Unterricht als Vipassana-Lehrerin einfließen ließ. Eine ihrer Schülerinnen schreibt.”Ruth hat sich ihre frühen Erfahrungen bei Charlotte Selver so gründlich zu Herzen genommen und sie so in ihr Leben und ihre buddhistische Praxis integriert, dass sie in ihrem Unterricht auf zahllose offensichtliche und manchmal subtile Weisen zutage treten. Es ist unmöglich, ihr Verständnis buddhistischer Prinzipien und Praxis von ihrer Fähigkeit die körperlichen Empfindungen zu durchdringen, zu trennen. Und Ruths außergewöhnliche körperliche Sensibilität und ihre Fähigkeit, diese in ihren Schülerinnen und Schülern anzuregen, wurden zuallererst von Charlotte Selver geweckt.”

In den frühen 60ern machte Henry den Vorschlag, einer Asienreise. So flogen er und Ruth zunächst nach Japan, um ihren Freund Alan Watts zu besuchen, der dort Schüler aus dem Westen in Zen unterrichtete. Die ersten Meditationserfahrungen, die Ruth bei Sasaki gesammelt hatte bildeten hierfür eine gute Grundlage, so dass sie neugierig darauf war, mehr darüber zu erfahren.

Neben weiteren Ländern in Asien, bereisten sie schließlich Burma. Zunächst gingen sie in das über die Landesgrenzen hinaus bekannte Kloster von Mahasi Sayadaw. Er gilt als der vielleicht größte Vipassana-Lehrer Burma’s, der über 70 Lehrbücher zum Buddhismus verfasste und so maßgeblich zu der Reform des Theravada  in den 50er Jahren beigetragen hatte. Auf ihn geht die Methode des Etikettierens zurück, bei der jede Bewegung oder jedes Gefühl innerlich benannt wird. Zudem prägte er durch seine Lehrreisen die Verbreitung der Vipassana-Tradition im Westen maßgeblich – (z.B. Joseph Goldstein oder Sharon Salzberg).

Die Ausstattung in den traditionellen burmesischen Klöstern ist äußerst karg. So gibt es in einer Zelle meist nur ein Brett als Bett, ein gebogenes Holz als Kopfkissen und ein dünnes Laken als Decke. Ruth hatte sich schon in den USA bei Reparatur-Arbeiten Rückenschmerzen eingefangen, die sich dadurch so sehr verschlimmerten, dass sie nicht mehr aufstehen konnte. Dies führte dazu, dass ihren Aufenthalt bei Mahasi beenden mussten und Henry machte ein weiteres Meditationszentrum mit besserem Schlafkomfort ausfindig. Dieses wurde von Thray Sithu Sayagyi U Ba Khin geleitet. U Ba Khin war, im Gegensatz zu Mahasi kein Mönch, sondern ein Laie, der nur kurze Zeit als Mönch lebte, aber die längste Zeit seines Lebens Familienvater war und in einer Behörde arbeitete.

Zu Beginn ihres Aufenthaltes mussten sie die Einhaltung der buddhistischen Regeln geloben. Diese sind: Nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen, keine Drogen konsumieren, sowie das Unterlassen sexuellen Fehlverhaltens. Jeder bekam anschließend eine Meditationszelle zugeteilt, in der sie selbständig dem Tagesablauf zu folgen hatten. In den ersten drei Tagen lehrte er sie, auf den Atem zu achten (anapana sati), wodurch die Konzentrationskraft geschult wird. In den Tagen 4 – 10 bestand die Übung aus Vipassana, der Einsichtsmeditation (sweeping), bei der dem Körper und den auftretenden Empfindungen systematisch mit Achtsamkeit begegnet wird. Dadurch wird es möglich, die Beschaffenheit und die Vergänglichkeit aller Dinge zu erkennen, was letztlich zu Gleichmut und Weisheit führt.

Zu Beginn war es schwer für Ruth, in die Übung zu finden, denn sie hatte bis dahin nur wenig Meditationserfahrung. Mit der Zeit jedoch stellte sie fest, dass die Übung den Achtsamkeitsübungen glich, die sie bei der Sensory Awareness Schulung von Selver erlernt hatte. Nachdem sie so die anfänglichen Widerstände gegenüber der Übung überwunden hatte, konnte sie sich mehr und mehr auf U Ba Khins Anweisungen einlassen, wodurch ihre Übung an Tiefe gewann.

Einmal wurde sie gefragt, ob sie eine Erleuchtungserfahrung gemacht habe. Darauf antwortete sie:”Also, ich weiß nicht. Ich benutze diesen Ausdruck nicht. Was ist Erleuchtung? Verstehst du? Ich machte tiefe Erfahrungen, in denen ich annica (Unbeständigkeit) sehen konnte, ich war die Verbindung, das ist revolutionär. Jetzt ist es so selbstverständlich für mich, ganz natürlich. Aber damals war es der erste Eintritt in den großen Strom… Man verliert es aber auch wieder. Es ist eine Berührung. Die Zen-Leute nennen es kensho. Verstehst du, ich hatte Zen, und ich hatte Charlotte, ich war also für diese Sache gut ausgerüstet. Ich wusste, wie ich diese tiefe Erfahrung machen konnte, und ich hatte genug Unterstützung durch Charlottes Übungen. Später, als ich selbst unterrichtete, war ich in der Lage, den Schülerinnen und Schülern von hier aus eine gute Basis zu geben.”

U Ba Khin wurde in der religiösen Gemeinschaft in Burma dafür kritisiert, dass er als Laie das Dharma unterrichtete. Zudem hatte er einen 10-Tageskurs entwickelt, um Vipassana zu lehren, was als zu kurzer Zeitraum angesehen wurde, um diese Praxis zu erlernen. U Ba Khin legte jedoch damit den Grundstein für die Verbreitung von Vipassana im Westen, wo diese Art der Weitergabe bis heute gelehrt wird (Anm. des Autors: inzwischen werden diese Kurse auch in traditionellen Zentren in Burma gelehrt) .

In der Zeit nach ihrer Asienreise begann in den USA das Experimentieren mit LSD. Maßgeblich daran beteiligt war der damalige Harvard-Professors Timothy Leary. Dazu versammelte sich eine Gemeinschaft in Millbrook, einem Anwesen von Alfred Hitchcock, dass er Leary zur Verfügung stellte. Dort begannen er und seine Studenten, die Bewusstseinsveränderungen unter LSD zu erforschen. Mit  von der Partie war auch Richard Alpert, der später zum Hinduismus konvertierte und als Ram Dass bekannt wurde. Auch Ruth und Henry war es aufgrund der Beziehungen von Henry möglich, sechs Wochen in dieser Gemeinschaft zu leben. Es sprach sich schnell herum, dass Ruth durch ihr Verständnis von Sensory Awareness und Vipassana in der Lage war, den Versuchspersonen, die auf einem Horrortrip waren, zu helfen.

In den USA gab es zu jener Zeit keine Vipassana-Lehrer und so praktizierten Ruth und Henry – wieder angekommen in ihrem Haus in Hollywood – weiterhin Zen und saßen wie schon zuvor bei Sasaki Roshi und Maezumi Roshi. Sasaki Roshi war ein strenger Rinzai-Meister, der 1962 nach Los Angeles kam und anfing, in einer Garage Zen zu unterrichten. Maezumi Roshi war Dharma-Nachfolger in den Linien Soto, Rinzai und Sanbo-Zen und gründete insgesamt sechs Zentren in den USA und Europa – darunter auch das Zen-Zentrum von Los Angeles. Henry und Ruth halfen beiden Meistern ihre Zentren aufzubauen, in dem sie z.B. Fundraising-Essen veranstalteten. In dieser Zeit änderte sich die Sichtweise von Ruth, die von U Ba Khin die strenge Auslegung des Theravada gewohnt war, und jetzt durch die Ausführungen zum Mahayana-Buddhismus das Boddhisattva-Ideal kennenlernte. Als Ruth davon hörte, war sie angetan von der Idee, anderen zu helfen (das hatte sie sich in den Kriegsjahren ja geschworen) und eiferte fortan diesem Ideal nach. So stand sie morgens um 4:00 Uhr auf, um Maezumi Roshi dabei zu helfen, den Meditationsraum herzurichten. Sie fütterte Kojoten in den Hollywood Hills und war Gastgeberin für Teezeremonien oder Seminare, wie z.B. für die Kurse von Alan Watts.

Ihr Eifer und ihre Leidenschaft für diese Aufgaben brachten sie schließlich an ihre mentale Grenzen, so dass sie einen Zusammenbruch erlitt. Dieser ereignete sich während eines strengen Sesshins, in dem sie morgens um zwei aufstanden und bis spät Abends saßen. Ruth beschrieb ihr Innenleben wie folgt:”Als ich anfing zu gehen, war es so luftig in mir und so verbunden. Ich spürte, dass ich tatsächlich ohne einen Geist war. Es war so luftig, dass es sich beinahe so anfühlte, als wenn ich nicht hierher gehörte, als wäre ich tot, hmm? Und dann wurde mir klar, dass es sich anfühlte, als würde mein Geist sich entfernen, er war auf dem Zaun und verschwand hinter den Bäumen. Ich holte tief Luft und spürte Energie aufsteigen. Ich konnte ihn zurückholen, aber ich konnte ihn nicht halten, er entwich sofort wieder.” Die beiden Zen-Meister konnten ihr in dieser Situation nicht helfen. Henry brachte Rutz zu einem Arzt, der die verzweifelte Lage von Ruth erkannte und ihr entsprechende Medikamente verabreichte, damit sie sich beruhigen konnte. In der darauffolgenden Zeit erkannte Ruth, dass es nicht aussichtslos war, wieder in den Normalzustand zu kommen. Sie war so hypersensibel und verängstigt, dass sie sich vom alltäglichen Leben zurückziehen musste. Sie konnte keine Gesellschaft, außer die von Henry, ertragen, da sie von allem absorbiert wurde. Und so lenkte sie ihre Aufmerksamkeit immer wieder auf jede einzelne Handlung in ihrem Tagesablauf. Sie lebte wochenlang im Garten und schlief unter einer Kiefer. Sie verband sich mit den Ästen, den Blumen usw. wodurch es ihr schließlich wieder gelang, sie selbst zu sein. In dieser Zeit lernte sie viel über psychische Probleme und darüber, wie verwirrte Menschen wieder in Balance gebracht werden können. Dies war die Voraussetzung dafür, dass sie später als einer der wenigen buddhistischen Lehrerinnen bekannt wurde, welche es psychisch gestörten Menschen erlaubte, an ihren Kursen teilzunehmen.

Über die Jahre vertiefte sich Ruths Beziehung zu U Ba Khin immer mehr und dauerte letztlich bis an sein Lebensende. Sie schrieb ihm viele Briefe über ihre Praxis und kehrte, wann immer es ihr möglich war, nach Burma zurück. Schließlich wurde sie 1971 von U Ba Khin als Nachfolgerin bestimmt und bekam die Lehrbeauftragung.

Ruth und Henry unternahmen darüber hinaus auch Reisen in andere Länder, um deren Kultur kennen zu lernen. So z.B. nach Ägypten, Israel, Syrien, Jordanien, Italien, Frankreich usw. Eine dieser Reisen führte sie nach Japan, wo sie ein Jahr lang lebten und in Zen-Tempeln meditierten. Sie saßen dort auch bei Yasutani Roshi und Yamada Roshi, den ersten beiden Äbten der Sanbo-Zen Linie, der auch Willigis Jäger entsprang. Rückblickend schildert sie diese Zeit wie folgt:”Bei Yasutani Roshi gelangte ich zu tiefer, guter Sammlung. Ich lernte, bewusst und aufmerksam den Raum der Demut wahrzunehmen, zu sehen, was wir als Menschen manchmal tun müssen, um zu bekommen, was wir wollen.”

Ruth begann im kleinen, lockeren Kreis zu unterrichten, ehe sie eine gefragte Lehrerin wurde. Dazu lud sie Freundinnen und Freund nach Hause ein, um gemeinsam zu meditieren und erste Anweisungen zu geben. Damals war Lama Govinda, der Begründer des buddhistischen Maitreya Ordens, ein wichtiger Lehrer für sie und Henry. Ebenso hatten sie die Gelegenheit, Vorträge von Chögyam Trungpa Rinpoche (Begründer der Shambala-Tradition) oder von Krishnamurti zu hören. Auch entwickelte Ruth zu jener Zeit ihren eigenen Weg, in dem sie die asketische formale Tradition von U Ba Khin mit der modernen Arbeit von Charlotte Selver verband. Nachdem U Ba Khin gestorben und beigesetzt war, reisten sie und Henry nach Hawaii, um bei Aitken Roshi, einem der ersten westlichen Zen-Meistern, zu lernen.  

Im Jahre 1974 wurde sie zum ersten Mal im Ausland als Lehrerin tätig und gab, neben Retreats in den USA, auch Kurse in Europa (u.a. in Österreich, Frankreich, Italien, England, Schweiz und Deutschland). In der Theorie konzentrierte sie sich auf die Vier Edlen Wahrheiten (Die Edle Wahrheit vom Leiden, die Edle Wahrheit von der Leidensentstehung, die Edle Wahrheit von der Leidensauflösung und die Edle Wahrheit von dem zur Leidensauflösung führenden Pfad.), also auf den Kern der buddhistischen Lehre und dort insbesondere auf die Erste Edle Wahrheit (Dukkha – Die Edle Wahrheit vom Leiden).

1976 gründeten Joseph Goldstein, Sharon Salzberg, Jack Kornfield, Robert Hover und andere die Insight Meditation Society (I.M.S), in dem Ruth bei der Erstellung des Lehrplans mithalf und auch später unterrichtete. Ruth respektierte dabei die Tradition, die sie bei U Ba Khin erfahren hatte, ließ sich aber dadurch nicht in ihrer Kreativität einschränken. So integrierte sie immer wieder Körperübungen in ihre Kurse, die auf die Arbeit von Charlotte Selver zurückgingen. Darüber hinaus kam es auch vor, dass getanzt wurde oder sie mit den Kursteilnehmer nachts durch den Garten ging, um sich im Dunkeln langsam und achtsam zu bewegen. Ein Markenzeichen war auch ihr Hund Muffin, den sie mit in den Meditationsraum nahm und der während der Sitzperioden ruhig neben ihrem Kissen lag. Auch führte sie weitere Aspekte, wie z.B. die Gehmeditation, die sie vom Zen her kannte, in Vipassana ein.

Die zunehmende Lehrtätigkeit, die sie auch oft ins Ausland oder auf Konferenzen führte, veränderte ihr Leben sehr. Sie reiste jetzt viel und war wenig zu Hause und somit trat ihr Privatleben und die Beziehung mit Henry immer mehr in den Hintergrund. Sie beschreibt diesen Wandel wie folgt:”Als Dhamma kam, war alles andere vorbei. Meine Mosaikarbeiten, mein Tennis, ich verkaufte mein Klavier. Ich vernachlässigte Henry, und deswegen hatten wir Schwierigkeiten. Und der Haushalt. Ich war immer unterwegs. Ich habe wirklich nach und nach mein Privatleben geopfert. Und später beschloss ich dann sogar, hier draußen in der Wüste zu leben. Ich gab gewissermaßen alles auf.”

Mit Dhamma meinte Ruth ihr Vipassana-Zentrum, welches eigentlich Dhamma Dena hieß und welches sie in der Mojave Wüste in der Nähe des Nationalparks Joshua Tree errichtet hatte. Anfangs bestand das Zentrum aus nur einem Haus und Ruth kehrte außerhalb der Kurse wieder nach Hollywood zu Henry zurück. Ab Mitte der 80er jedoch lebte sie die längste Zeit des Jahres in der Wüste und erweiterte das Zentrum schrittweise. Neben anderen besuchte sie dort der Ehrwürdige Mahasi Sayadaw, dessen Zentrum sie – bevor sie Schüler von U Ba Khin wurde – in Burma besucht hatte. Ruth erzählt einmal über diese Zeit: “Ich habe meinen Geist nie mit dem Ziel [der Erleuchtung] belastet. Ich genoss die Atmosphäre in mir und um mich herum, wenn ich in Harmonie mit mir selbst war, egal ob ich an der I.M.S unterrichtete oder in Deutschland oder ob ich hier in der Wüste die Schlafbaracke her richtete. Du bemühst dich nicht um den Durchbruch, sondern stärkst die Achtsamkeit, die Präsenz in der bewussten Achtsamkeit, und dann sortiert sich alles.”

Die Methoden, die sie in die Vipassana-Tradition integriert hatte, wurde insbesondere von den traditionellen Lehrern in Burma nicht toleriert. Der Dialog wurde zum Ultimatum und so spitzte sich die Lage immer weiter zu, bis sie schließlich – neben den drei anderen westlichen Dharma-Erben von U Ba Khin – exkommuniziert wurde. Selbst der bekannte Lehrer Goenka, der sich äußert genau an die Tradition hielt, wurde von Sayama, welche Nachfolgerin von U Ba Khin war, ausgeschlossen.

In den 80ern und 90ern reifte Ruth als Lehrerin und verfeinerte ihre Lehrtätigkeit, so dass ihre Anweisungen subtiler und umfassender wurden. Aus den Anfängerinnen und Anfänger der ersten Jahre ihrer Lehrtätigkeit waren reife Schüler geworden. Sie beschrieb ihren Geisteszustand jener Zeit wie folgt:”Alles hat für mich jetzt mehr Tiefe. Es versetzt mich in Erstaunen. Ich sehe erstens, dass alles, was wir Problem oder Unzufriedenheit nennen, nur eine Ursache hat, nämlich das Fehlen von Achtsamkeit und Aufmerksamkeit. Ich sehe keine schlechten oder großartigen  Menschen mehr und frage nicht mehr, wie können sie das tun?[…] Es ist immer die Abwesenheit deiner höheren Instanz.”

Im Jahr 2001 veränderte ein tiefgreifendes Ereignis ihren Blick in die Welt. Ruth war auf dem Rückweg einer ihrer Kurse von der I.M.S. und hatte einen Flug von Boston nach Los Angeles gebucht. Jedoch hatte sie am Vorabend beschlossen, noch etwas Sightseeing in Boston zu machen, bevor sie in den Flieger stieg. Dadurch passierte es, dass sie ihren Flug verpasste. Wie sich später Zeit jedoch herausstellen sollte, hatte es das Schicksal gut mit ihr gemeint, denn ihr Flug war nun auf dem Weg zu einem Terroranschlag und schlug wenig später in einen der Türme des World Trade Centers. Ruth wäre also um ein Haar mit den anderen 175 Personen an Bord gestorben. Sie nahm infolgedessen das Leid, das durch den Anschlag verursacht worden war, immer wieder mit in die Meditation hinein nahm, wodurch sich ihr Blick auf das Leben veränderte:”Die Veränderung ist, dass ich unglaublich dankbar bin. […] Ich glorifiziere das Leben nicht, aber es schenkt mir die Möglichkeit, Zugang zu letztendlicher Verwirklichung zu finden. Seitdem weiß ich, dass es mir in jedem Moment passieren kann. […] Das zu wissen bringt mich zu dem neuen Beschluss, so zu leben, dass ich Verwirklichung und Befreiung erlange.”    

Ruth adaptierte nicht nur die Vipassana-Meditation an die westlichen Bedürfnisse an, sondern hielt als erste Lehrerin im Westen reine Frauen-Retreats, was für die damalige Zeit revolutionär war. Die Körperarbeit und Gehmeditation, für die sie in den 70ern heftig kritisiert wurde, gehören heute zum Standardreportoire eines Vipassana-Kurses. Auch gelang es ihr, die Rolle der Frau im Buddhismus zu stärken, der über Tausende von Jahren durch das Patriarchat geprägt war. Eine weitere Errungenschaft ihres Engagements war ein weit verzweigtes Netzwerk von Gleichgesinnten. So gründete sie z.B. das Zentrum für Buddhismus in Deutschland oder sponsorte verschiedene Zentren in den USA. Im Jahre 2006 wurde sie von den Vereinten Nationen als herausragende Persönlichkeit für ihren Beitrag zu der Verbreitung des Vipassana Buddhismus im Westen geehrt.

Im Februar 2015 erlitt sie einen schweren Schlaganfall und starb in folge dessen am 26.02.2015. Dharma-Freunde und Schüler aus der ganzen Welt feierten ihr Leben gaben ihr das letzte Geleit.   

Weitere Quellen:
A Visit With Ruth Denison
http://www.internationalmeditationcentre.org/publications/DhammaTexts.pdf
http://www.imc-austria.com/text1.htm
https://www.dhamma.org/de/about/art
http://www.internationalmeditationcentre.org/publications/Essentials-German.pdf
http://www.lonelyplanet.com/myanmar-burma/yangon-rangoon/activities/health-wellness/mahasi-meditation-centre

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